Nachrufe
Dr. Andrea Heinz
Am 8. September 2020 verstarb nach tapfer ertragener Krankheit unser langjähriges Vorstandsmitglied Dr. Andrea Heinz.
Andrea Heinz war von 2005 bis 2016 Zweite Schriftführerin der Gesellschaft für Theatergeschichte; sie gestaltete die erste Website für die Gesellschaft und repräsentierte lange Zeit den Vorstand in der Jury für den Förderpreis, mit dem die Gesellschaft Magister- bzw. Masterarbeiten zu einem theaterhistorischen Inhalt auszeichnete.
Ihre inhaltliche Kompetenz und ihre konstruktive, immer heiter-ausgleichende Art brachten viele Diskussionen und auch manche Sitzungen des Vorstands voran.
Ihre wissenschaftliche Publikationsliste bleibt hier einsehbar.
Wir werden Dr. Andrea Heinz sehr vermissen und ihrer in Ehren gedenken.
Der Vorstand
Dr. Maria Müller-Sommer
(* 4. Mai 1922 in Berlin; geb. Janicki; † 27. August 2023 in Berlin)
Am 25. November 1950 versammelten sich 17 Personen, darunter auch Maria Sommer, bei Kurt Raeck, dem Direktor des Berliner Renaissance-Theaters, zu einer „Arbeitsbesprechung der Berliner Mitglieder“ der Gesellschaft für Theatergeschichte. Wie so vieles in Berlin, hatte auch die 1902 gegründete Gesellschaft mit dem Ende des Krieges und der Nazi-Herrschaft ihre Tätigkeit eingestellt und sollte jetzt, fünf Jahre nach Kriegsende, wiederbelebt werden. Als treibende Kräfte ließen sich vielleicht die vier Männer ausmachen, die bei der Wiedergründung am 3. Februar 1951 zum Vorstand der Gesellschaft gewählt wurden: zum Vorsitzenden Dr. Kurt Raeck, Direktor des Berliner Renaissance-Theaters, zum Schriftführer Dr. Herbert A. Frenzel, Publizist, zum Schatzmeister Fabrikdirektor Walter Unruh und zum Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Ausschusses Prof. Dr. Hans Knudsen. Kurt Raeck schildert im Heft 28 der Kleinen Schriftenreihe diesen Neustart sehr anschaulich.
Gehörte die am 25.11.1950 28jährige Dr. Maria Sommer, die gerade in diesem Jahr 1950 die Anteile an dem renommierten Kiepenheuer Bühnenverlag erworben hatte, schon damals zu den „Alt-Mitgliedern“ der Gesellschaft vor 1945? Denkbar ist es, aber nicht mehr nachweisbar, weil die Mitgliederkartei vermutlich in den starken Bombenangriffen auf Kreuzberg am 3. Februar 1945 mit dem Bücherbestand des Elsner Verlages verbrannte. Denkbar ist es, weil Maria Sommer noch am 20. April 1945, am Geburtstag Adolf Hitlers, von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität promoviert wurde – mit dem schönen Thema „Zur Geschichte der Berliner Theaterzensur“, und zwar von jenem Hans Knudsen, der nur ein Jahr zuvor auf Geheiß Hitlers und gegen den Widerstand der Universität zum Professor ernannt wurde. Knudsen war seit 1923 Schriftführer der Gesellschaft und hat so vielleicht auch Maria Sommer zum Eintritt in die Gesellschaft bewogen.
Maria Sommer war damit das älteste Mitglied unserer Gesellschaft und verfolgte die Tätigkeit der Gesellschaft mit großer Sympathie. Zwei Mal ist sie auch nachweislich in Veranstaltungen der Gesellschaft aufgetreten: Am 3.12.1953 in einer Art Colloquium zu dem Thema Das Recht des Bühnenautors aus den verschiedenen Blickwinkeln des Historischen, Juristischen und Praktischen behandelt zusammen mit Hans Knudsen, Kurt Raeck, Adolf Kraetzer und Friedrich Karl Fromm im Deutschen Bühnen-Klub und in einem unserer Gesellschaftsabende im Haus des Kulturvolks am 28.9.2018 mit einem frei gehaltenen Vortrag Zur Arbeit eines Bühnenverlages. Von diesem Vortrag gibt es noch eine Aufzeichnung.
Kurz nach dem Weltkrieg war Maria Sommer zuerst als Lektorin in den Kiepenheuer Bühnenverlag eingetreten, den sie dann 1950 erwarb. Wie sie gerne erzählte, hat sie deswegen die goldene Uhr ihres Vaters verkauft. Damit war sie seinerzeit wohl eine der ganz wenigen Verlegerinnen in Deutschland. Aber nicht das war ihre historische Leitung, sondern ihr nie nachlassendes Engagement für Autor:innen, ihr Gespür für das, was im Theater auschlaggebend war und ist: der Zeitgeist, das, was an Stoffen, aber auch an literarischen Stimmen in der jeweiligen Gegenwart notwendig auf die Bühne kommen muss. So förderte sie den jungen Dramatiker Günther Grass, woraus eine Lebensfreundschaft entstand. Sie brachte englische, amerikanische und damals vor allem französische Autor:innen auf die deutschen Bühnen, aber z.B. auch polnische. Sie war eine geniale Netzwerkerin, die langjährige Kontakte zu Autor:innen, Übersetzer:innen, Dramaturg:innen und Theaterleitern (mir sind in den 1950er und 1960er Jahren außer Ida Ehre keine Theaterleiterinnen bekannt) knüpfte und hielt. Am spektakulärsten ist ihre Entdeckung von George Tabori für das deutsche Theater. Sein Stück Die Kannibalen, eine groteske Farce, die in Auschwitz spielt, machte am 13.12.1969 in der Werkstatt des Schiller Theaters Skandal. Maria Sommer blieb ein Leben lang eng mit dem Autor verbunden und besorgte eine Werkausgabe seiner Theaterstücke.
Aber Maria Sommer war nicht nur die ambitionierte Talentefinderin, sondern engagierte sich für ihre Autor:innen auch darüber hinaus, z.B. für eine gerechte Entlohnung ihrer Arbeit. 1958 gründete sie die Verwertungsgesellschaft Wort, deren Ehrenvorsitzende sie zuletzt war und sie war lange Jahre Vorsitzende des Verlegerverbandes. Dennoch: Kern und Angelpunkt ihrer Tätigkeit war und blieb ihr Verlag, den sie zusammen mit ihrem Nachfolger Bernd Schmidt bis zuletzt führte. Noch in dem letzten Telefongespräch mit ihr klagte sie über die Folgen der Pandemie für die Bühnenverlage und erzählte nicht ohne Stolz, dass es der Erfolg der Bühnenwerke ihres Autors Ferdinand von Schirach seien, die den Verlag in dieser existenziellen Krise gerettet hätten.
Maria Sommer ist 101 Jahre alt geworden und blieb bis zuletzt geistig und körperlich erstaunlich frisch. Ihre Anrufe, wenn sie sich dafür entschuldigte, dass sie nicht zur angekündigten Mitgliederversammlung der Gesellschaft kommen könne, und der kurze Austausch, der daraufhin folgte, werden fehlen. Ihre Person wird fehlen und wir dürfen dankbar dafür sein, dass wir sie solange in unseren Reihen wussten, mit ihrer stetigen Anteilnahme, ihrem wachen Interesse und ihrer großen Sympathie für die Belange der Gesellschaft! Herzlichen Dank, Frau Sommer!
Stephan Dörschel
Dr. Lothar Schirmer
Dr. Lothar Schirmer
20.11.1943 in Mülheim an der Ruhr – 5.12.2021 in Potsdam
Ein Nachruf
Lothar Schirmer muss ich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre begegnet sein, nachdem ich im Theaterarchiv der Berliner Akademie der Künste begonnen hatte zu arbeiten. Er war unser Gegenüber in der Stiftung Stadtmuseum Berlin – Leiter der dortigen Theatersammlung. Der hochgewachsene, schlanke, immer sehr elegant, aber auch immer in schwarz gekleidete Herr wurde auf öffentlichen Veranstaltungen regelmäßig von seiner ebenso eleganten, schwarz gekleideten Frau begleitet. Seine Bewegungen hatten etwas Fließendes, beinahe könnte man sagen: Raubtierhaftes – ein schwarzer Panther fiel mir damals spontan dazu ein und diese Assoziation hat etwas: schwarze Panther sind entweder Leoparden (Afrika und Asien) oder Jaguare (Süd- und Mittelamerika) – sie stellen keine eigene Art dar. Lothar Schirmer, den man zu einem der bedeutendsten Vertreter in der überaus überschaubaren Reihe der Theaterhistoriker und Theatersammlungsleiter zählen kann, erschien mir immer als jemand, der aus seiner sehr speziellen Art geschlagen war, der seinen eigentlichen Beruf verfehlt hatte: Zu scharf war sein Verstand, um in der bunten irrlichternden Welt des Theaters zu Hause sein können, zu scharf aber auch sein Humor, um mit der nötigen und erwarteten Demut potentielle Archivgeber*nnen umgarnen zu können. Dass er beides aber konnte: sowohl zu Hause sein im Theater, wie auch sich zurückzunehmen im Kontakt mit Künstler*nnen, konnte ich immer wieder erstaunt-begeistert feststellen.
1977 erschien im Peter Lang Verlag seine Disertation „Avantgardistische und traditionelle Aspekte im Theater von Eugène Ionesco. Zur Rezeption von „Die kahle Sängerin“ auf deutschsprachigen Bühnen.“ Promoviert hatte er bei Prof. Wolfgang Baumgart am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Er gehörte dort aber auch zu dem Kreis um Prof. Walter Huder, dem Archivdirektor an der Westberliner Akademie der Künste und einer der Begründer der Exilforschung – ein Thema, das Lothar Schirmer sein Leben lang begleiten wird.
1989 wurde er als Oberkustos mit dem Aufbau einer Theatersammlung im Berlin Museum beauftragt und begann systematisch und mit großem analytischen Sachverstand eine der umfangreichsten und inhaltsreichsten Theatersammlungen im deutschsprachigen Raum aufzubauen. Nach der Vereinigung mit dem Ostberliner Märkischen Museum im Jahre 1995 im Zuge der deutschen Vereinigung erhielt die Sammlung, der zuerst Dr. Ruth Freydank vorstand, einen erheblichen Zuwachs. Lothar Schirmer wurde im selben Jahr Leiter der Theatersammlung der Stiftung Stadtmuseum Berlin und erhielt die Möglichkeit, im historischen Nicolaihaus in der Brüderstraße, Berlin-Mitte, in vier Ausstellungen exemplarisch die Berliner Theatergeschichte nach 1945 zu präsentieren. Jede Ausstellung wurde von einem Katalog begleitet, in dem auch die damals noch zahlreichen Mitarbeiter*nnen Schirmers Beiträge veröffentlichten. Lothar Schirmer dokumentierte hier, wie ein Berliner Theatermuseum seiner Ansicht nach zu konstituieren sei: Als Teil eines kulturgeschichtlichen Museums! Aber nicht nur in Theaterausstellungen, auch in den stadtgeschichtlichen Ausstellungsformaten der Stiftung spielten das Theater, der Zirkus, aber auch Sonderformen wie z.B. das Papiertheater, immer eine bemerkenswerte Rolle. Für Lothar Schirmer bedeutete Theatergeschichte nicht nur einen abgegrenzten Bezirk wissenschaftlicher Betrachtung, sondern war und blieb eingebettet in eine Kultur- und Sozialgeschichte.
Lothar Schirmer hat seit seinem Studium regelmäßig größere und kleinere Abhandlungen veröffentlicht, die auf der Webseite der Gesellschaft für Theatergeschichte dokumentiert sind. Daraus lässt sich ersehen, dass einer seiner Schwerpunkte in dem Verfassen von Rollenverzeichnissen von Schauspielern lag – für jeden Zeit- und Theaterhistoriker eine wertvolle Quelle, für jeden, der sich daran einmal versucht hat, eine manchmal mühselige, aber vor allem akribische Fleißarbeit. In einer vergleichbaren Fleißarbeit begegnete ich Lothar Schirmer, der seit 1994 als erster Schatzmeister im Vorstand der Gesellschaft für Theatergeschichte tätig war, bei der Vorbereitung des Doppelbandes 78 der Schriftenreihe: „Das Jahr 1848. Kultur in Berlin im Spiegel der Vossischen Zeitung.“ Ausgehend von der Dokumentation Paul S. Ulrichs für die Zentral- und Landesbibliothek Berlin zum Revolutionsjahr 1848 wurde hier wirklich jeder Eintrag, jeder Vor- und Nachname akribisch abgeklopft, nachrecherchiert und in ein nicht unkompliziertes Layout eingepasst. Die Besprechungen fanden völlig unkonventionell in Luckies Pizzeria in Kreuzberg statt – auch das entsprach seinem persönlichen Lebensstil. Ich lernte dabei viel über die detektivische Kombinationsgabe, die Lust an den Rechercheergebnissen, aber auch über das mühselige Zusammentragen und das Eingeständnis, bestimmte Fakten nach 150 Jahren nicht mehr zur Verfügung zu haben. Sein Engagement in der Gesellschaft, der er 20 Jahre als erster Schatzmeister zur Verfügung stand, war bemerkenswert. 1994 in den Vorstand gewählt, brach in den Folgejahren nach und nach der Vorstand und damit auch die Tätigkeit der Gesellschaft weg – allein der erste Schatzmeister Lothar Schirmer hielt mit einer Reihe von Veröffentlichungen nach außen die Tätigkeit weiter aufrecht. 2005 entschied er sich, den Vorstand neu zu besetzen, tat dies aber nicht durch vorherige Absprachen, sondern indem er die betreffenden Personen auf der Mitgliederversammlung mit ihrer Nominierung überraschte. So gerieten der Theaterwissenschaftler Paul S. Ulrich und ich in den Vorstand, dem Schirmer bis 2014 angehörte. Ein persönliches Anliegen war ihm 2013 die versuchte Rekonstruktion von „Die Frühzeit des Weimarischen Hoftheaters unter Goethes Leitung (1791 bis 1798). Nach den Quellen bearbeitet von Bruno Th. Satori-Neumann.“ 1922 veröffentlichte der Max Herrmann-Schüler Satori-Neumann als Band 31 der Schriftenreihe angeblich aus Papiermangel lediglich ein Fragment seiner umfassenden theater-, zeit- und sozialgeschichtlich angelegten Untersuchung. In der Sammlung Walter Unruh im Institut für Theaterwissenschaft der Feien Universität Berlin lagen dazu weitere Unterlagen. Trotz akribischer Nachforschung mussten auch die beiden 2013 erschienenen und von Schirmer kommentierten Bände Fragment bleiben. Seine letzte Publikation in der Gesellschaft schließt an seine erste an: 1991 erschien als Kleine Schrift Heft 36 die Aufsatzsammlung „Aus Trümmern erstanden. Theater in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg“ und 2015 gab er im Auftrag der Gesellschaft Heft 47 die Aufsatzsammlung „Aspekte des deutschen Theaters im 20. Jahrhundert.“ heraus. Die Gesellschaft ehrte ihn zweimal: 2008 schenkte sie der Stiftung Stadtmuseum Berlin auf seinen Vorschlag hin das Albert-Steinrück-Gemälde von Alfred Sohn-Rethel, das bei jener legendären Albert-Steinrück-Gedenkveranstaltung 1929 auf der Bühne des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt hing. Bei seinem Ausscheiden aus dem Vorstand 2014 machte sie ihn zu ihrem Ehrenmitglied. Er prägte mit seiner wissenschaftlichen Lauterkeit, seinem theaterhistorischem Enthusiasmus und seinem nie an die Öffentlichkeit drängenden Ethos die Gesellschaft nachhaltig.
19.12.2021
Stephan Dörschel
Paul S. Ulrich
Paul S. Ulrich
14. Januar 1944 – 29. Oktober 2023
Am 29. Oktober 2023 verstarb nach langer Krankheit Paul S. Ulrich, langjähriger Vorsitzender der Gesellschaft für Theatergeschichte. Paul S. Ulrich wurde in Lebanon, Pennsylvania in den USA als erstes von fünf Kindern geboren. Schon in seiner Abschlussarbeit am College beschäftigte er sich mit dem deutschsprachigen Theater – dem Arbeitertheater in Deutschland – und stellte dabei fest, dass die biografischen Nachschlagewerke zum deutschen Theater lückenhaft und unzureichend waren. Mit 24 Jahren, 1968, kam er als Dozent des US-amerikanischen Schiller-College nach Deutschland, das Land seiner Vorfahren. Und ein Jahr später heiratete er seine Frau Anita – eine Verbindung fürs Leben. Fünf Jahre später, das Paar war inzwischen in der Viersektorenstadt Berlin angekommen, absolvierte er eine Bibliothekarsausbildung und arbeitete von 1975 bis zu seiner Pensionierung in der Amerika Gedenkbibliothek – einem bisher in Deutschland völlig unbekannten neuen Typ von öffentlicher Bibliothek.
Nahezu fünf Jahrzehnte widmete sich Paul S. Ulrich von nun an seinem Lebenswerk: der Erfassung und Auswertung biografischer Daten von Personen, die in der überaus reichen deutschsprachigen Theaterlandschaft bis zum Ende der Monarchien 1918/1919 arbeiteten. Wobei dem Amerikaner Paul S. Ulrich erst einmal nicht wichtig war, in welchen (heutigen) Grenzen diese Theater standen: ob in den damaligen diversen deutschen Fürstentümern, im Habsburger Reich, im damaligen Russland oder in den anderen europäischen oder außereuropäischen Staaten. Sein Interesse weitete sich auf Spielorte aus, an denen Theater stattfand, und auch die Genres, ob Sprechtheater, die verschiedenen Spielarten der Oper oder Ballett, ja selbst circensische Darstellungsformen wurden miteinbezogen.
Paul S. Ulrichs Ansatz war ein egalitärer: da die wichtigsten und zahlreichsten Quellen in der Neuzeit Souffleurjournale waren, richtete sich sein Augenmerk auf diese, so oft vernachlässigte Berufsgruppe im Theater. Er betonte auch immer wieder, dass es die Kassiererinnen seien, die für den Bestand einer Theaterwandertruppe existenziell wichtig waren: oft verheiratet mit dem Direktor übernahmen sie nach dessen Tod auch häufig die Leitung der Companie. Völlig begeistert war er aber z.B. auch, als er von der Existenz von Artistenkalendern erfuhr, weil diese nicht nur zusätzlich eine große Anzahl bisher unbekannter Auftrittsorte enthielten, sondern darüber hinaus auch präzise Angaben über die Auftrittsbedingungen vor Ort. Dass Theater nicht nur in dafür eigens errichteten Gebäuden stattfand, sondern in manchen Orten auch Hinterzimmer von Gastwirtschaften zu „Stadttheatern“ mutieren konnten, verstand sich dabei fast schon von selbst. Aber Paul S. Ulrichs Ansatz war auch ein pragmatischer. Er fragte sich immer wieder, wie das damalige Theater, was gerade in Deutschland so ungeheuer populär war, sich seinerzeit organisierte. Wie kamen die verschiedenen wandernden Theatertruppen von Ort zu Ort – wobei sie für die damaligen Reisemöglichkeiten oft erstaunliche Distanzen überwanden? Er stieß auf die Kur- oder Sommertheater an der Ostsee und er hielt ein Universitätsseminar, in dem er verkündete: studiert die Fahrpläne der damals existierenden Eisenbahnen!
Diese sehr eigenwilligen, originellen Forschungsansätze waren in seiner Fachdisziplin, der Theatergeschichte, nicht sehr populär, weder bei den Dozent:innen, noch den Studierenden. Umso wichtiger war für ihn, als ein Gasthörer seines Seminars aufgrund der Erfahrungen dort seine Studienrichtung änderte und fortan die Ulrichschen Forschungswege weiterging. Die Anerkennung in Fachkreisen war dennoch groß, nicht zuletzt durch die Datensammlungen, die Paul S. Ulrich jederzeit bereitwillig zur Verfügung stellte, für die jeweilige Forschungsfrage akribisch aufbereitete und in der Regel auch noch weiterführende Hinweise gab. Ein vorbildlicher Dienstleister seines eigenen Wissensschatzes.
Paul S. Ulrich behauptete von sich, dass er nicht (oder nur ungern) Nein sagen könne, weil sich hinter jeder Tür, die sich ihm auftat, ja ganz neue Erkenntnisse verbergen könnten – und man könne ja auch jederzeit wieder durch die Tür zurückkommen. Man kannte ihn als jemanden, der auf seinem Palmtop in einer von ihm selbst entworfenen und ständig weiter entwickelten relationalen Datenbank in jeder freien Minute Daten eingab, korrigierte und verknüpfte. Aber er legte aufgrund seiner Forschungen auch weitere umfangreiche Sammlungen an. So publizierten die Souffleusen und Souffleure in ihren Spielzeit-Journalen oft auch Gedichte. Paul sammelte und transkribierte hunderte von ihnen. Die Theateralmanache, die von Agenten oder Agenturen lokal- und regional-übergreifend veröffentlicht wurden, enthielten auch Illustrationen – auch sie wurden katalogisiert. Und schließlich, wir befinden uns im deutschen Kulturraum, also keine Sache ohne Regelungen, sammelte er sogenannte Theatergesetze, das sind Regeln, die die Theaterleitung vor allem dem künstlerischen Personal für einen reibungslosen Betrieb vorschrieben – eine brisante Quelle für die Theater des 18. und 19. Jahrhunderts.
Die Theateraufführung ist das Ergebnis von Teamwork – das unterscheidet diese Kunstform von fast allen anderen Künsten. Auch Paul S. Ulrich verstand sich auf Kollaboration. Er brachte sich und seine Fähigkeiten in zahlreichen Vereinigungen ein. So setzte er schon sehr früh auf das gerade entstehende Internet, um Daten sichtbar zu machen, was auch heißt, sie recherchierbar, auffindbar zu machen – für einen studierten Bibliothekar die Königsdisziplin. Über viele Jahre organisierte und betreute er das legendäre SIBMAS-Directory, ein online zugängliches Verzeichnis theatersammelnder Institutionen auf der ganzen Welt. Wie nicht anders zu erwarten, ging er auch hier unkonventionelle Wege, in dem er die darin vorkommenden Institutionen keinen Fragebogen schickte, die sie auf Englisch oder Französisch auszufüllen haben, sondern ihnen den vorgesehenen Eintrag zusandte – wenn sie nichts daran änderten, wurde es so veröffentlicht. Die Rücklaufquote war enorm! Die Grenze für die SIBMAS war erreicht, als Paul sich in seiner Auflistung nicht mehr um die jeweilige Mitgliedschaft in der internationalen Vereinigung der theatersammelnden Archive, Bibliotheken und Museen scherte, sondern auf Vollständigkeit aus war. Wer heute im Internet das SIBMAS-Directory anklickt, wird über die Mitgliedschaften dieser äußerst verdienstvollen Institution informiert werden – mehr aber nicht. Für Thalia Germanica, einer internationalen Vereinigung von Forschenden zur deutschsprachigen Theatergeschichte, sorgte er für eine jahrelange kontinuierliche Publizierung der Tagungsbände. Seine wertvolle Expertise brachte er auch in Perspectiv ein, der Gesellschaft für historische Theater. Seit 2005 diente er auch als Vorsitzender der Gesellschaft für Theatergeschichte – für einen US-Amerikaner, der auch sprachlich nie seine Herkunft verleugnen konnte, wahrlich eine Herausforderung. Aber seinerzeit vor die Alternative gestellt, dass die Gesellschaft, die immerhin 1902 gegründet worden war, entweder aufgeben müsse, oder es sich Personen fänden, die sich in ihrem Vorstand engagieren – entschied er, sofern sich Kollaborateure finden, mit denen er zusammenarbeiten könne, würde er den Vorsitz übernehmen. Der 1. Schatzmeister der Gesellschaft, Dr. Lothar Schirmer, der diesen Deal eingefädelt hatte, sorgte auch für Mitstreiter, die teilweise bis heute an seiner Seite blieben. Die Gesellschaft hat dadurch an Reputation zurückgewonnen, was sie vorher verloren hatte.
Ein spätes Glück fand Paul S. Ulrich mit seinen Forschungsergebnissen in dem privaten Don Juan Archiv und dem mit ihm verbundenen Hollitzer Verlag, beide in Wien, der seit November 2022 eine eigene Reihe Topographie und Repertoire des Theaters begründete, in der bis jetzt fünf dickleibige Bänden erschienen sind – weitere Bände sind bereits gedruckt oder in Vorbereitung. Dies droht, seine früheren selbstständigen Veröffentlichungen wie auch seine zahlreichen Aufsätze zu dem Thema des Theaterpersonals, der Theaterspielstätten und des Repertoires in den Schatten zu stellen. Auch online sind diese Theater-Journale der Öffentlichkeit über die Webseite des Don Juan Archivs zugänglich. Die Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln hat den Datenbestand von Paul S. Ulrich bereits jetzt schon gesichert und bereitet eine allgemein zugängliche Datenbank mit seinen Daten vor.
Wer angesichts dieses immensen Werkes davon ausgeht, dass Paul S. Ulrich in seiner freien Zeit ausschließlich der Sammlung, Katalogisierung und Auswertung theaterbezogener Daten widmete, irrt sich. Er renovierte nach eigenen Angaben unzählige Wohnungen von Freund:innen und Bekannten, baute mit seinem Freund Werner Schwenke zahlreiche historische Bühnenbildmodelle für Akademie-Ausstellungen nach, restaurierte alte Möbel, baute Musikinstrumente und half seiner Frau jedes Jahr bei den vorweihnachtlichen Bäckereien. Sensationell war auch sein selbst hergestellter Orangenschnaps!
He was a man, take him for all in all, I shall not look upon his like again.
(Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem; wir werden nimmer seinesgleichen sehen.)
Hamlet I.2
Stephan Dörschel
1. Schriftführer der Gesellschaft für Theatergeschichte
31.10.2023
Die Trauerrede von Stephan Dörschel finden Sie hier.