Termine
Die nächsten Gesellschaftsabende sind geplant für
Freitag, 26. Januar 2024 - Prof. Dr. Jan Lazardzig: Wissenschaft aus Gefolgschaft. Der Fall Knudsen und die Anfänge der Theaterwissenschaft (s. u.)
Freitag, 15. März 2024 - Elena Pascalau: Between the Dramatic Muse and the Genius of Painting: Einblick in die Theatergrafik-Sammlung der Akademie der Künste (s. u.)
Änderungen vorbehalten.
Ausschreibung Max-Herrmann-Dissertationspreis der Gesellschaft für Theatergeschichte 2024
Einreichungsfrist bis zum 31. Dezember 2023
Die Gesellschaft für Theatergeschichte e.V. lobt auch für 2024 ihren Max-Herrmann-Dissertationspreis aus: Wir bitten um die Einreichung von herausragenden Doktorarbeiten mit theaterhistorischen Inhalt gemäß der Satzung.
Der Preis heißt in Erinnerung an Max Herrmann, den 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt unwürdig ums Leben gekommenen Begründer der Berliner Theaterwissenschaft, Max-Herrmann-Dissertationspreis der Gesellschaft für Theatergeschichte.
Wir weisen auf die in der Satzung vorgesehene Einreichungsfrist bis zum 31. Dezember 2023 ausdrücklich hin und bitten um rege Beteiligung, Weitergabe dieser Ausschreibung und der Satzung des Preises – und sind natürlich sehr gespannt!
Weitere Informationen und die Satzung des Max-Herrmann-Dissertationspreises finden Sie unter https://www.theatergeschichte.org/aktivitaeten/max-herrmann-dissertationspreis/.
Neuer Vorstand


Am 11. November 2023 wählten die Mitglieder auf der Mitgliederversammlung einen neuen Vorstand:
Vorsitzender: Dr. Wolfgang Jansen
1. Schriftführer: Stephan Dörschel
1. Schatzmeister: Carsten Jung
2. Schriftführer: Frank-Rüdiger Berger*
2. Schatzmeisterin: Magret Berger*
(*nicht verwandt, nicht verschwägert)
Die außerturnusmäßige Neuwahl war durch den Tod des langjährigen Vorsitzenden Paul S. Ulrich bedingt.
Nachruf
Paul S. Ulrich

14. Januar 1944 – 29. Oktober 2023
Am 29. Oktober 2023 verstarb nach langer Krankheit Paul S. Ulrich, langjähriger Vorsitzender der Gesellschaft für Theatergeschichte. Paul S. Ulrich wurde in Lebanon, Pennsylvania in den USA als erstes von fünf Kindern geboren. Schon in seiner Abschlussarbeit am College beschäftigte er sich mit dem deutschsprachigen Theater – dem Arbeitertheater in Deutschland – und stellte dabei fest, dass die biografischen Nachschlagewerke zum deutschen Theater lückenhaft und unzureichend waren. Mit 24 Jahren, 1968, kam er als Dozent des US-amerikanischen Schiller-College nach Deutschland, das Land seiner Vorfahren. Und ein Jahr später heiratete er seine Frau Anita – eine Verbindung fürs Leben. Fünf Jahre später, das Paar war inzwischen in der Viersektorenstadt Berlin angekommen, absolvierte er eine Bibliothekarsausbildung und arbeitete von 1975 bis zu seiner Pensionierung in der Amerika Gedenkbibliothek – einem bisher in Deutschland völlig unbekannten neuen Typ von öffentlicher Bibliothek.
Nahezu fünf Jahrzehnte widmete sich Paul S. Ulrich von nun an seinem Lebenswerk: der Erfassung und Auswertung biografischer Daten von Personen, die in der überaus reichen deutschsprachigen Theaterlandschaft bis zum Ende der Monarchien 1918/1919 arbeiteten. Wobei dem Amerikaner Paul S. Ulrich erst einmal nicht wichtig war, in welchen (heutigen) Grenzen diese Theater standen: ob in den damaligen diversen deutschen Fürstentümern, im Habsburger Reich, im damaligen Russland oder in den anderen europäischen oder außereuropäischen Staaten. Sein Interesse weitete sich auf Spielorte aus, an denen Theater stattfand, und auch die Genres, ob Sprechtheater, die verschiedenen Spielarten der Oper oder Ballett, ja selbst circensische Darstellungsformen wurden miteinbezogen.
Paul S. Ulrichs Ansatz war ein egalitärer: da die wichtigsten und zahlreichsten Quellen in der Neuzeit Souffleurjournale waren, richtete sich sein Augenmerk auf diese, so oft vernachlässigte Berufsgruppe im Theater. Er betonte auch immer wieder, dass es die Kassiererinnen seien, die für den Bestand einer Theaterwandertruppe existenziell wichtig waren: oft verheiratet mit dem Direktor übernahmen sie nach dessen Tod auch häufig die Leitung der Companie. Völlig begeistert war er aber z.B. auch, als er von der Existenz von Artistenkalendern erfuhr, weil diese nicht nur zusätzlich eine große Anzahl bisher unbekannter Auftrittsorte enthielten, sondern darüber hinaus auch präzise Angaben über die Auftrittsbedingungen vor Ort. Dass Theater nicht nur in dafür eigens errichteten Gebäuden stattfand, sondern in manchen Orten auch Hinterzimmer von Gastwirtschaften zu „Stadttheatern“ mutieren konnten, verstand sich dabei fast schon von selbst. Aber Paul S. Ulrichs Ansatz war auch ein pragmatischer. Er fragte sich immer wieder, wie das damalige Theater, was gerade in Deutschland so ungeheuer populär war, sich seinerzeit organisierte. Wie kamen die verschiedenen wandernden Theatertruppen von Ort zu Ort – wobei sie für die damaligen Reisemöglichkeiten oft erstaunliche Distanzen überwanden? Er stieß auf die Kur- oder Sommertheater an der Ostsee und er hielt ein Universitätsseminar, in dem er verkündete: studiert die Fahrpläne der damals existierenden Eisenbahnen!
Diese sehr eigenwilligen, originellen Forschungsansätze waren in seiner Fachdisziplin, der Theatergeschichte, nicht sehr populär, weder bei den Dozent:innen, noch den Studierenden. Umso wichtiger war für ihn, als ein Gasthörer seines Seminars aufgrund der Erfahrungen dort seine Studienrichtung änderte und fortan die Ulrichschen Forschungswege weiterging. Die Anerkennung in Fachkreisen war dennoch groß, nicht zuletzt durch die Datensammlungen, die Paul S. Ulrich jederzeit bereitwillig zur Verfügung stellte, für die jeweilige Forschungsfrage akribisch aufbereitete und in der Regel auch noch weiterführende Hinweise gab. Ein vorbildlicher Dienstleister seines eigenen Wissensschatzes.
Paul S. Ulrich behauptete von sich, dass er nicht (oder nur ungern) Nein sagen könne, weil sich hinter jeder Tür, die sich ihm auftat, ja ganz neue Erkenntnisse verbergen könnten – und man könne ja auch jederzeit wieder durch die Tür zurückkommen. Man kannte ihn als jemanden, der auf seinem Palmtop in einer von ihm selbst entworfenen und ständig weiter entwickelten relationalen Datenbank in jeder freien Minute Daten eingab, korrigierte und verknüpfte. Aber er legte aufgrund seiner Forschungen auch weitere umfangreiche Sammlungen an. So publizierten die Souffleusen und Souffleure in ihren Spielzeit-Journalen oft auch Gedichte. Paul sammelte und transkribierte hunderte von ihnen. Die Theateralmanache, die von Agenten oder Agenturen lokal- und regional-übergreifend veröffentlicht wurden, enthielten auch Illustrationen – auch sie wurden katalogisiert. Und schließlich, wir befinden uns im deutschen Kulturraum, also keine Sache ohne Regelungen, sammelte er sogenannte Theatergesetze, das sind Regeln, die die Theaterleitung vor allem dem künstlerischen Personal für einen reibungslosen Betrieb vorschrieben – eine brisante Quelle für die Theater des 18. und 19. Jahrhunderts.
Die Theateraufführung ist das Ergebnis von Teamwork – das unterscheidet diese Kunstform von fast allen anderen Künsten. Auch Paul S. Ulrich verstand sich auf Kollaboration. Er brachte sich und seine Fähigkeiten in zahlreichen Vereinigungen ein. So setzte er schon sehr früh auf das gerade entstehende Internet, um Daten sichtbar zu machen, was auch heißt, sie recherchierbar, auffindbar zu machen – für einen studierten Bibliothekar die Königsdisziplin. Über viele Jahre organisierte und betreute er das legendäre SIBMAS-Directory, ein online zugängliches Verzeichnis theatersammelnder Institutionen auf der ganzen Welt. Wie nicht anders zu erwarten, ging er auch hier unkonventionelle Wege, in dem er die darin vorkommenden Institutionen keinen Fragebogen schickte, die sie auf Englisch oder Französisch auszufüllen haben, sondern ihnen den vorgesehenen Eintrag zusandte – wenn sie nichts daran änderten, wurde es so veröffentlicht. Die Rücklaufquote war enorm! Die Grenze für die SIBMAS war erreicht, als Paul sich in seiner Auflistung nicht mehr um die jeweilige Mitgliedschaft in der internationalen Vereinigung der theatersammelnden Archive, Bibliotheken und Museen scherte, sondern auf Vollständigkeit aus war. Wer heute im Internet das SIBMAS-Directory anklickt, wird über die Mitgliedschaften dieser äußerst verdienstvollen Institution informiert werden – mehr aber nicht. Für Thalia Germanica, einer internationalen Vereinigung von Forschenden zur deutschsprachigen Theatergeschichte, sorgte er für eine jahrelange kontinuierliche Publizierung der Tagungsbände. Seine wertvolle Expertise brachte er auch in Perspectiv ein, der Gesellschaft für historische Theater. Seit 2005 diente er auch als Vorsitzender der Gesellschaft für Theatergeschichte – für einen US-Amerikaner, der auch sprachlich nie seine Herkunft verleugnen konnte, wahrlich eine Herausforderung. Aber seinerzeit vor die Alternative gestellt, dass die Gesellschaft, die immerhin 1902 gegründet worden war, entweder aufgeben müsse, oder es sich Personen fänden, die sich in ihrem Vorstand engagieren – entschied er, sofern sich Kollaborateure finden, mit denen er zusammenarbeiten könne, würde er den Vorsitz übernehmen. Der 1. Schatzmeister der Gesellschaft, Dr. Lothar Schirmer, der diesen Deal eingefädelt hatte, sorgte auch für Mitstreiter, die teilweise bis heute an seiner Seite blieben. Die Gesellschaft hat dadurch an Reputation zurückgewonnen, was sie vorher verloren hatte.
Ein spätes Glück fand Paul S. Ulrich mit seinen Forschungsergebnissen in dem privaten Don Juan Archiv und dem mit ihm verbundenen Hollitzer Verlag, beide in Wien, der seit November 2022 eine eigene Reihe Topographie und Repertoire des Theaters begründete, in der bis jetzt fünf dickleibige Bänden erschienen sind – weitere Bände sind bereits gedruckt oder in Vorbereitung. Dies droht, seine früheren selbstständigen Veröffentlichungen wie auch seine zahlreichen Aufsätze zu dem Thema des Theaterpersonals, der Theaterspielstätten und des Repertoires in den Schatten zu stellen. Auch online sind diese Theater-Journale der Öffentlichkeit über die Webseite des Don Juan Archivs zugänglich. Die Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln hat den Datenbestand von Paul S. Ulrich bereits jetzt schon gesichert und bereitet eine allgemein zugängliche Datenbank mit seinen Daten vor.
Wer angesichts dieses immensen Werkes davon ausgeht, dass Paul S. Ulrich in seiner freien Zeit ausschließlich der Sammlung, Katalogisierung und Auswertung theaterbezogener Daten widmete, irrt sich. Er renovierte nach eigenen Angaben unzählige Wohnungen von Freund:innen und Bekannten, baute mit seinem Freund Werner Schwenke zahlreiche historische Bühnenbildmodelle für Akademie-Ausstellungen nach, restaurierte alte Möbel, baute Musikinstrumente und half seiner Frau jedes Jahr bei den vorweihnachtlichen Bäckereien. Sensationell war auch sein selbst hergestellter Orangenschnaps!
He was a man, take him for all in all, I shall not look upon his like again.
(Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem; wir werden nimmer seinesgleichen sehen.)
Hamlet I.2
Stephan Dörschel
1. Schriftführer der Gesellschaft für Theatergeschichte
31.10.2023
49. Gesellschaftsabend am 26. Januar 2024, 19 Uhr: Prof. Dr. Jan Lazardzig
Wissenschaft aus Gefolgschaft. Der Fall Knudsen und die Anfänge der Theaterwissenschaft.
Vortrag von Prof. Dr. Jan Lazardzig (FU Berlin)
Auf der Folie der Karriere des Berliner Theaterwissenschaftlers Hans Knudsen (1886–1971) fragt Prof. Dr. Jan Lazardzig vom Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin nach der politischen und gesellschaftlichen Funktion einer Wissenschaft vom Theater in Weimarer Republik, NS-Diktatur und Bundesrepublik.
Dabei geht es unter dem Leitmotiv der Treue und Gefolgschaft um eine Kontinuitätsgeschichte anti-modernen und antisemitischen Gedankenguts in den Geisteswissenschaften.
Beginn 19 Uhr; der Eintritt ist frei - Gäste sind herzlich willkommen!
Die Einladung finden Sie hier.
Ort: Kulturvolk | Freie Volksbühne Berlin e.V.
Piscator Saal
Ruhrstr. 6
10709 Berlin
(U Fehrbelliner Platz/Konstanzer Straße)
www.kulturvolk.de
50. Gesellschaftsabend am 15. März 2024, 19 Uhr: Elena Pascalau
Between the Dramatic Muse and the Genius of Painting:
Einblick in die Theatergrafik-Sammlung der Akademie der Künste
Vortrag von Elena Pascalau (Akademie der Künste, Berlin)
Vier Jahrhunderte vor der Erfindung der Fotografie wurde der Druckgrafik anvertraut, das „Theater der Welt“ widerzuspiegeln und es mittels ihrer ingeniösen Vervielfältigungsmöglichkeiten einem großen Publikum zugänglich zu machen. Es erhebt sich die Frage, wie Künstler des 17. bis 19. Jahrhunderts mit der Herausforderung umgegangen sind, die Dynamik anderer Kunstgattungen wie Theater, Oper und Tanz in einer bildlichen Form festzuhalten und zu dokumentieren.
Anhand der Theatergrafik-Sammlung der Akademie der Künste soll das komplexe Wechselverhältnis zwischen bildender und darstellender Kunst untersucht werden, das sich in der Verflechtung von Fiktion und Wirklichkeit zeigt. Daraus ergeben sich methodische Fragen für die Gegenwart: Was macht eine „Theatergrafik-Sammlung“ aus, und worin besteht die Einzigartigkeit der grafischen Sammlung des Archivs Darstellende Kunst?
Beginn 19 Uhr; der Eintritt ist frei - Gäste sind herzlich willkommen!
Die Einladung finden Sie hier.
Ort: Kulturvolk | Freie Volksbühne Berlin e.V.
Piscator Saal
Ruhrstr. 6
10709 Berlin
(U Fehrbelliner Platz/Konstanzer Straße)
www.kulturvolk.de
Nachruf
Dr. Maria Müller-Sommer
(* 4. Mai 1922 in Berlin; geb. Janicki; † 27. August 2023 in Berlin)
Am 25. November 1950 versammelten sich 17 Personen, darunter auch Maria Sommer, bei Kurt Raeck, dem Direktor des Berliner Renaissance-Theaters, zu einer „Arbeitsbesprechung der Berliner Mitglieder“ der Gesellschaft für Theatergeschichte. Wie so vieles in Berlin, hatte auch die 1902 gegründete Gesellschaft mit dem Ende des Krieges und der Nazi-Herrschaft ihre Tätigkeit eingestellt und sollte jetzt, fünf Jahre nach Kriegsende, wiederbelebt werden. Als treibende Kräfte ließen sich vielleicht die vier Männer ausmachen, die bei der Wiedergründung am 3. Februar 1951 zum Vorstand der Gesellschaft gewählt wurden: zum Vorsitzenden Dr. Kurt Raeck, Direktor des Berliner Renaissance-Theaters, zum Schriftführer Dr. Herbert A. Frenzel, Publizist, zum Schatzmeister Fabrikdirektor Walter Unruh und zum Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Ausschusses Prof. Dr. Hans Knudsen. Kurt Raeck schildert im Heft 28 der Kleinen Schriftenreihe diesen Neustart sehr anschaulich.
Gehörte die am 25.11.1950 28jährige Dr. Maria Sommer, die gerade in diesem Jahr 1950 die Anteile an dem renommierten Kiepenheuer Bühnenverlag erworben hatte, schon damals zu den „Alt-Mitgliedern“ der Gesellschaft vor 1945? Denkbar ist es, aber nicht mehr nachweisbar, weil die Mitgliederkartei vermutlich in den starken Bombenangriffen auf Kreuzberg am 3. Februar 1945 mit dem Bücherbestand des Elsner Verlages verbrannte. Denkbar ist es, weil Maria Sommer noch am 20. April 1945, am Geburtstag Adolf Hitlers, von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität promoviert wurde – mit dem schönen Thema „Zur Geschichte der Berliner Theaterzensur“, und zwar von jenem Hans Knudsen, der nur ein Jahr zuvor auf Geheiß Hitlers und gegen den Widerstand der Universität zum Professor ernannt wurde. Knudsen war seit 1923 Schriftführer der Gesellschaft und hat so vielleicht auch Maria Sommer zum Eintritt in die Gesellschaft bewogen.
Maria Sommer war damit das älteste Mitglied unserer Gesellschaft und verfolgte die Tätigkeit der Gesellschaft mit großer Sympathie. Zwei Mal ist sie auch nachweislich in Veranstaltungen der Gesellschaft aufgetreten: Am 3.12.1953 in einer Art Colloquium zu dem Thema Das Recht des Bühnenautors aus den verschiedenen Blickwinkeln des Historischen, Juristischen und Praktischen behandelt zusammen mit Hans Knudsen, Kurt Raeck, Adolf Kraetzer und Friedrich Karl Fromm im Deutschen Bühnen-Klub und in einem unserer Gesellschaftsabende im Haus des Kulturvolks am 28.9.2018 mit einem frei gehaltenen Vortrag Zur Arbeit eines Bühnenverlages. Von diesem Vortrag gibt es noch eine Aufzeichnung.
Kurz nach dem Weltkrieg war Maria Sommer zuerst als Lektorin in den Kiepenheuer Bühnenverlag eingetreten, den sie dann 1950 erwarb. Wie sie gerne erzählte, hat sie deswegen die goldene Uhr ihres Vaters verkauft. Damit war sie seinerzeit wohl eine der ganz wenigen Verlegerinnen in Deutschland. Aber nicht das war ihre historische Leitung, sondern ihr nie nachlassendes Engagement für Autor:innen, ihr Gespür für das, was im Theater auschlaggebend war und ist: der Zeitgeist, das, was an Stoffen, aber auch an literarischen Stimmen in der jeweiligen Gegenwart notwendig auf die Bühne kommen muss. So förderte sie den jungen Dramatiker Günther Grass, woraus eine Lebensfreundschaft entstand. Sie brachte englische, amerikanische und damals vor allem französische Autor:innen auf die deutschen Bühnen, aber z.B. auch polnische. Sie war eine geniale Netzwerkerin, die langjährige Kontakte zu Autor:innen, Übersetzer:innen, Dramaturg:innen und Theaterleitern (mir sind in den 1950er und 1960er Jahren außer Ida Ehre keine Theaterleiterinnen bekannt) knüpfte und hielt. Am spektakulärsten ist ihre Entdeckung von George Tabori für das deutsche Theater. Sein Stück Die Kannibalen, eine groteske Farce, die in Auschwitz spielt, machte am 13.12.1969 in der Werkstatt des Schiller Theaters Skandal. Maria Sommer blieb ein Leben lang eng mit dem Autor verbunden und besorgte eine Werkausgabe seiner Theaterstücke.
Aber Maria Sommer war nicht nur die ambitionierte Talentefinderin, sondern engagierte sich für ihre Autor:innen auch darüber hinaus, z.B. für eine gerechte Entlohnung ihrer Arbeit. 1958 gründete sie die Verwertungsgesellschaft Wort, deren Ehrenvorsitzende sie zuletzt war und sie war lange Jahre Vorsitzende des Verlegerverbandes. Dennoch: Kern und Angelpunkt ihrer Tätigkeit war und blieb ihr Verlag, den sie zusammen mit ihrem Nachfolger Bernd Schmidt bis zuletzt führte. Noch in dem letzten Telefongespräch mit ihr klagte sie über die Folgen der Pandemie für die Bühnenverlage und erzählte nicht ohne Stolz, dass es der Erfolg der Bühnenwerke ihres Autors Ferdinand von Schirach seien, die den Verlag in dieser existenziellen Krise gerettet hätten.
Maria Sommer ist 101 Jahre alt geworden und blieb bis zuletzt geistig und körperlich erstaunlich frisch. Ihre Anrufe, wenn sie sich dafür entschuldigte, dass sie nicht zur angekündigten Mitgliederversammlung der Gesellschaft kommen könne, und der kurze Austausch, der daraufhin folgte, werden fehlen. Ihre Person wird fehlen und wir dürfen dankbar dafür sein, dass wir sie solange in unseren Reihen wussten, mit ihrer stetigen Anteilnahme, ihrem wachen Interesse und ihrer großen Sympathie für die Belange der Gesellschaft! Herzlichen Dank, Frau Sommer!
Stephan Dörschel
Bibliographische Mitteilungen aus der Theatersammlung Rainer Theobald
Aktualisierte Listen

August Wilhelm Iffland als Haushofmeister Constant in seinem Schauspiel „Selbstbeherrschung“. Umrißradierung nach Zeichnung von Henschel aus „Ifflands mimische Darstellungen“ (Berlin 1811) - Theatersammlung Rainer Theobald
Im Mai 2023 wurden die Bibliographischen Mitteilungen aus der Theatersammlung Rainer Theobald zu August Wilhelm Iffland aktualisiert und um neue Einträge ergänzt.
Im Juni 2022 wurden aktualisiert und ergänzt:
2 A, B, C - Theaterbau, Bühnentechnik und Bühnenbild der Neuzeit
6 - Vor 1800 im deutschen Sprachraum (außer im Habsburger Kaiserreich) gedruckte Opern-, Singspiel- und Ballett-Libretti
8 A, B - Gesamtverzeichnis der vor 1800 gedruckten Libretti von Opern, Singspielen und Balletten
Die Bibliographischen Mitteilungen laden ein, in dieser überaus umfangreichen privaten Theatersammlung zu recherchieren und gegebenenfalls mit Dr. Rainer Theobald in Kontakt zu treten. Weitere Listen sind in Vorbereitung.
Sie gelangen zu den Bibliographischen Mitteilungen über den Menüpunkt „Publikationen/sonstige Ressourcen und Quellen“ bzw. diesen Link.
Paul S. Ulrich: Topographie und Repertoire des Theaters, Bd. 1-3
Buchpräsentation am 30. November 2022 in Berlin


Am 30. November stellte das Wiener, privat geführte Don Juan Archiv im Vorlesungssaal des Instituts für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin die ersten drei Bände der im Hollitzer Verlag neu etablierten Reihe "Topographie und Repertoire des Theaters" einem interessierten Fachpublikum vor. Paul S. Ulrich, der Vorsitzende der Gesellschaft für Theatergeschichte, veröffentlichte hier auf insgesamt über 1500 Seiten einen Ausschnitt seiner jahrzehntelangen Recherche und Auswertung von Theater-Journalen des ausgehenden 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhunderts.
Prof. Dr. Matthias Warstat begrüßte die Anwesenden nicht nur als Hausherr, sondern vermittelte auch in kurzen Worten die Bedeutung dieser Arbeit für die theaterwissenschaftliche Forschung und Lehre. Der erste Schriftführer der Gesellschaft, Stephan Dörschel, machte in seinem kurzen Grußwort deutlich, wie Paul S. Ulrich einerseits auf eine sehr große Anzahl von Personen angewiesen war, die ihm bei seinen Recherchen unterstützten, dass es aber Ulrich allein gewesen sei, der diese Sammlung zusammengetragen, strukturiert und analysiert habe.
Als Laudator hatte sich Ulrich den Theaterhistoriker und wohl Berlins profundesten Kenner der Materie, Dr. Rainer Theobald gewünscht und dessen Ausführungen erbrachten nicht nur einen knappen, konzisen Aufriss der vorliegenden drei Bände, die mit der Bibliografie der bisher aufgefundenen Theater-Journale den wissenschaftlichen Zugang zu ihnen ebnen, sondern mit der Auflistung sämtlicher Herausgeber*innen - überwiegend handelt es sich hierbei um Souffleusen und Souffleure oder Zettelträger*innen, also Theaterpersonal, das sonst überhaupt nicht Erwähnung findet - auch hier wieder eine ganz neue Perspektive in die Betrachtung des Theaterapparats einbringt. Der dritte Band, so Theobald, enthält wohl das Wichtigste: das Repertoire der damaligen Bühnen mit einer Unzahl von heute unbekannten Stücken und Stückbearbeitungen.
Schließlich stellte Dr. Matthias J. Pernerstorfer, Direktor des Don Juan Archivs und Mitherausgeber der Reihe, das ganze Editionsprojekt vor und gab einen faszinierenden Ausblick auf eine frei recherchierbare online-Version der digitalisierten Theater-Journale. Zum Abschluss ergriff Paul S. Ulrich das Wort, dankte den an dem Projekt Beteiligten - anwesend waren auch noch Andrea Gruber von der Bibliothek des Don Juan Archivs und Marcus Ebner, der das Projekt als IT-Experte betreut - und gab bekannt, dass er auch noch am Tag der Buchvorstellung acht bisher unbekannte Theater-Journale ausfindig machen konnte - das Projekt geht also weiter. Angemerkt sei, dass an der Universität zu Köln bereits an der Online-Verfügbarkeit von Paul S. Ulrichs Datenbank gearbeitet wird.
Max-Herrmann-Dissertationspreis der Gesellschaft für Theatergeschichte 2022 an Theresa Ida Eisele



Am Samstag, 19. November 2022 fand im Hörsaal des Instituts für Theaterwissenschaft der FU Berlin die Verleihung des Max-Herrmann-Dissertationspreises der Gesellschaft für Theatergeschichte 2022 statt.
Prof. Dr. Matthias Warstat begrüßte die Anwesenden und erinnerte an die Wichtigkeit der Theatergeschichte für die theaterwissenschaftliche Forschung und Lehre.
Stephan Dörschel, erster Schriftführer der Gesellschaft, begrüßte die Anwesenden und erinnerte an den Namensgeber Max Herrmann, dessen Todestag sich zwei Tage zuvor gejährt hatte.
Paul S. Ulrich, Vorsitzender der Gesellschaft, überreichte die Urkunde.
Die Laudatio hielt Prof. Dr. Dr. h.c. Erika Fischer-Lichte, zugleich Mitglied der Jury.
Dr. Theresa Eisele bedankte sich mit einem Vortrag zu ihrer Dissertation. Dabei berichtete sie in einem kleinen Exkurs auch von ihren Forschungen zu Max Herrmann.
Im Anschluss daran lud das Institut für Theaterwissenschaft zu einem kleinen Imbiss.
Der Vorstand der Gesellschaft hatte den Preis auf Vorschlag der Jury Theresa Ida Eisele für ihre Arbeit „Spiel- und Spiegelformen des Lebens“. Theatrale Praktiken jüdischer Erfahrung in der Wiener Moderne (Universität Wien 2021) zuzuerkannt.
In der Begründung der Jury heißt es:
„Die Arbeit von Theresa Ida Eisele entfaltet in ihrer weitausholenden und gleichzeitig tiefgehenden Studie die Theatralitätserfahrung der jüdischen Bevölkerung im Wien des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zwischen Assimilation und antisemitischer Ausgrenzung. Sie überzeugt vor allem durch den multiperspektivischen Ansatz, der die Theaterpraxis eingehend beleuchtet und damit theatralitätstheoretische wie kulturhistoriografische Aspekte berücksichtigt. Dabei gelingt es ihr, bislang wenig berücksichtigte Quellen aufzuschließen. Auch stilistisch überzeugt ihre Arbeit.“
Die Jury bestand aus: Stephan Dörschel (Sprecher), Prof. Dr. Dr. h.c. Erika Fischer-Lichte, Carsten Jung, Prof. em. Dr. Andreas Kotte, Dr. Britta Marzi
Max-Herrmann-Dissertationspreis der Gesellschaft für Theatergeschichte 2021
Preisverleihung an Robert Sollich



Am 11. Dezember 2021 fand im Hörsaal des Instituts für Theaterwissenschaft der FU Berlin die Verleihung des Max-Herrmann-Dissertationspreises der Gesellschaft für Theatergeschichte 2021 an Robert Sollich für seine Arbeit Die Kunst des Skandals. Eine deutsche Operngeschichte seit 1945 (Freie Universität Berlin 2019) statt.
Prof. Dr. Matthias Warstat / FU Berlin und Paul S. Ulrich / Gesellschaft für Theatergeschichte begrüßten die Gäste und Stephan Dörschel erinnerte an den Namensgeber des Preises Max Herrmann, den Gründungsvater der Berliner Theaterwissenschaft und langjährigen Vorsitzenden der Gesellschaft für Theatergeschichte.
Nach der Laudatio von Prof. Dr. Dr. hc. Erika Fischer-Lichte überreichte Paul S. Ulrich die Urkunde. In seinen Dankesworten berichtete Robert Sollich vom Entstehungsprozess seiner Arbeit und stellte zwei der behandelten Opernproduktionen exemplarisch vor.
In der Begründung der Jury heißt es:
„Die umfangreiche Studie von Robert Sollich vollzieht die deutsche (auch deutsch-deutsche) Operngeschichte nach 1945 – die Fokussierung auf „Oper“ innerhalb des breiteren Begriffsverständnisses von „Musiktheater“ ist für die Argumentation maßgebend – als Folge von wohl als kanonisch zu bezeichnenden Skandalereignissen und kontrovers rezipierten ästhetischen Konzepten nach. Den theoretischen Bezugsrahmen gibt neben skandaltheoretischen Positionen der Soziologie, die im Wesentlichen den politischen Skandal adressieren, Pierre Bourdieus Feldtheorie vor. Ein Schwerpunkt des präsentierten Materials liegt auf einschlägigen Etappen und Produktionen der neueren Geschichte der Bayreuther Festspiele (namentlich Wieland Wagners Inszenierungen von Die Meistersinger von Nürnberg, Götz Friedrichs Tannhäuser und Patrice Chéreaus Der Ring des Nibelungen). Verf. begreift die von ihm vorgestellten Ereignisse als zentrale[] potentielle[] historische[] Umschlagpunkte[] der Operngeschichte“ (S. 522). Zu den wichtigen Ergebnissen der detail- und wendungsreichen Analysen gehört die Konstatierung einer „wesenhaften Unschärfe von Theaterskandalen“ (ebd.). […]
Demgegenüber erkannte die Jury in der Arbeit von Robert Sollich die von der Gesellschaft für Theatergeschichte formulierten Vergabekriterien in hohem Maße erfüllt: die fleißige und materialreiche, auf einer breiten Basis theoretischer Positionen operierende Studie kann für sich in Anspruch nehmen, zur Grundlagenforschung beigetragen und ihr Thema, den Opern-/Theaterskandal, dem die Forschung bislang lediglich am Rande Aufmerksamkeit geschenkt hat, auf beachtlichem Reflexionsniveau behandelt zu haben.“
Die Jury bestand aus Prof. Dr. Stefan Hulfeld, Dr. Wolfgang Jansen, Prof. Dr. Marion Linhardt (Sprecherin), Dr. Britta Marzi und Dr. Lea-Sophie Schiel.
Die Laudatio von Prof. Dr. Dr. hc. Erika Fischer-Lichte finden Sie hier.
Die Dissertation von Robert Sollich ist unter dem Titel Die Kunst des Skandals. Eine deutsche Operngeschichte seit 1945 im Wehrhahn-Verlag erschienen.
Bd. 82 der Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte erschienen
„Enthusiasmus ist noch zu wenig gesagt“ Die Stars des romantischen Balletts: sechs biographische Pas de deux

Aus: Allgemeine Theaterzeitung, Originalblatt für Kunst, Literatur, Musik, Mode und geselliges Leben, 8.4.1843 (Ausschnitt)
Kolorierter Kupferstich von Johann Wenzel Zink nach Cajetan.
Sammlung Frank-Rüdiger Berger
Frank-Rüdiger Berger:
„Enthusiasmus ist noch zu wenig gesagt“
Die Stars des romantischen Balletts: sechs biographische Pas de deux
(= Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, Bd. 82)
Hardcover, 340 S. (Register von Paul S. Ulrich)
90 teils ganzseitige Farbabbildungen
ISBN 978-3-924955-23-6
59,- €
Das Inhaltsverzeichnis finden Sie hier.
Die Gesellschaft hat in ihrer über 100jährigen Geschichte noch keine explizit dem Bühnentanz gewidmete Publikation herausgegeben! Unser Vorstandsmitglied Frank-Rüdiger Berger hat dafür auf seine Vortragsreihen zum romantischen Ballett zurückgegriffen und diese, insbesondere hinsichtlich der Berliner Ballettgeschichte, durch weitere Forschungen ergänzt. Es ist außerordentlich spannend zu erfahren, wie es auch immer wieder die Frauen sind, die hier in einer Männerdomäne nicht nur als Objekt ästhetischer Projektionen dienen, sondern durchaus auch leitend, d. h. hier choreographierend die Entwicklung vorantreiben und bestimmen. Mit seinen zahlreichen zeitgenössischen Illustrationen und Zitaten vermittelt dieses Buch aber auch die ästhetischen Vorstellungen des romantischen Balletts in der bildenden Kunst und Literatur. Theater ist hier ein genreübergreifendes Phänomen. (Stephan Dörschel)
Die Mitglieder der Gesellschaft für Theatergeschichte haben den Band im Rahmen ihrer Mitgliedschaft erhalten.
Interessierte Nicht-Mitglieder können den Band bestellen über:
Gesellschaft für Theatergeschichte e. V.
Herrn Stephan Dörschel
E-Mail schriftfuehrer1@theatergeschichte.org
Max-Herrmann-Dissertationspreis der Gesellschaft für Theatergeschichte 2020
Preis verliehen an Senad Halilbašić

Foto © Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

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Erstmals zeichnete die Gesellschaft für Theatergeschichte in diesem Jahr eine herausragende theatergeschichtliche Dissertation mit dem neu ausgelobten Max-Herrmann-Dissertationspreis der Gesellschaft für Theatergeschichte aus.
Der Vorstand der Gesellschaft erkannte den Preis auf Vorschlag der Jury Senad Halilbašić für seine Arbeit „Spielende und Zuschauende sowie eine Granate, die weit genug weg ist“. Theater in Bosnien und Herzegowina 1992-1995 zu.
Die Preisverleihung fand am 21. Oktober 2020 in einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Preisverleihung des Max-Herrmann-Preises der Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin statt. Die Laudatio hielt Stephan Dörschel. Senad Halilbašić schloss in seine Danksagung einen flammenden Appell für das lebendige Theater ein, gerade auch in Krisenzeiten, wie es damals in Bosnien war und wie es heute durch die Covid19- Pandemie ist.
In der Begründung der Jury heißt es:
„Die Dissertationsschrift bietet Theatergeschichte als Zeitgeschichte, gibt Einblick in die Rolle des Theaters in den jugoslawischen Zerfallskriegen der 90er Jahre, am Beispiel von Bosnien und der Herzegowina in den Jahren des Bosnienkrieges 1992-95.
Die vier Hauptkapitel rücken jeweils eine Stadt in den Fokus: Mostar in der Herzegowina, Tuzla und Sarajewo in Bosnien, Banja Luka in der Republika Srpska. Der Verfasser legt mehr Gewicht auf die drei Provinzstädte als auf die Metropole Sarajevo, deren Theaterentwicklung während der Kriegsjahre schon Gegenstand vorhandener Forschungen war. Die Lektüre der Studie vermittelt ein differenziertes Bild des Bürgerkriegsgeschehens im Bosnienkrieg, in das hier die Theatergeschichte eingebettet wird. Die Entwicklungen des Verhältnisses zwischen Theater und Stadtgesellschaft werden jeweils an ein oder zwei führenden Theatern in der jeweiligen Stadt exemplifiziert.
Sehr klug reflektiert der Verfasser in der Einleitung seine eigene historisch-politische Positionierung als in Wien aufgewachsenes Kind einer bosnisch-muslimischen Familie. Er zeigt auf, welche Rolle seine familiäre Herkunft bei den Recherchen und Gesprächen im ehemaligen Kriegsgebiet spielte. In methodischer Hinsicht besticht die Argumentation durch umsichtige Einbeziehung einer Fülle heterogener Quellen. Der Verfasser stützt sich auf Oral-History-Interviews, Aufführungsaufzeichnungen, Theaterstücke sowie vielfältige Archivalien (Plakate, Fotos, Programmzettel, Rezensionen etc.). Die Arbeit zeigt, wie sich ein Bürgerkriegsgeschehen umfassend in der Theaterentwicklung des Konfliktgebiets spiegelt. Die Theater sind im Grunde keine Inseln oder Schutzräume (wobei dieser Gedanke im Sarajevo-Kapitel ausführlich erörtert wird), sondern werden von den Kriegsparteien auf unterschiedlichste Weise instrumentalisiert, lassen sich vereinnahmen etc. Man könnte hier mit einigem Recht von einem „Einbruch der Zeit in das Spiel“ sprechen.
Die Stärke der Arbeit liegt in ihrem wichtigen, substantiellen Beitrag zu dem in den letzten Jahren stetig an Bedeutung gewinnenden Forschungsfeld Kriegstheater; mitreißend und materialnah geschrieben, bietet sie genaueste Mikro-Einblicke in die jeweiligen Stadtgesellschaften und die Rolle des Theaters. Sie wahrt auf souveräne Weise Distanz zu den Narrativen der Kriegsparteien und verbindet Oral History auf innovative Weise mit Diskurs- und Inszenierungsanalysen – eine politische Theatergeschichte von höchster Relevanz. Dies kompensiert in vollem Umfang den Verzicht auf eine explizite und ausgeweitete Theorie- und Methodendiskussion, die gleichwohl implizit im Text geleistet ist. Insgesamt handelt es sich um eine herausragende voll preiswürdige Arbeit.“
Die Jury bestand aus Dr. Wolfgang Jansen, Dr. Britta Marzi, Dr. Lea-Sophie Schiel, Prof. Dr. Meike Wagner (Sprecherin) und Prof. Dr. Matthias Warstat.